Die Nixe, die Hexe & der Prinz
Nächtliche Parallelwelten
Antonin Dvoraks bekannteste Oper „Rusalka"
9., 11.,16., 19., 25. Juni
Opernhaus Stuttgart
Karten für Mitglieder: 47 -100 Euro
Am 4. Juni hat Antonin Dvoraks bekannteste Oper „Rusalka“ in Stuttgart Premiere. Am selben Abend lädt das Theater Heidelberg, nur hundert Kilometer entfernt, zu einer eigenen Inszenierung ein, und die Dresdner Semperoper kommt den beiden süddeutschen Häusern um gerade vier Wochen zuvor. Diese Häufung stößt auf einen kuriosen Umstand, der wohl kaum auffällt. Während in den Medien und von der Politik ein Konsens suggeriert wird, wonach des Teufels ist, wer an der Idee und vor allem der Praxis eines Vereinten Europas rüttelt, erinnern die Opernhäuser an einen späten Ausläufer der tschechischen sogenannten Nationalen Wiedergeburt. Neben Bedrich Smetanas symphonischer Dichtung „Mein Vaterland“ ist „Rusalka“ wohl ihr bedeutendstes, jedenfalls außerhalb Tschechiens prominentestes musikalisches Zeugnis.
Wenn heute reflexartig abgelehnt wird, was nach Nationalismus riecht, dann wird vergessen, dass es einen Unterschied macht, ob dieser aggressiven Herrschaftsbestrebungen oder gar territorialen Eroberungen dient, oder ob er sich gegen die Bevormundung durch die Träger eben dieser Bestrebungen – sei es die deutschsprachige Obrigkeit in Wien, sei es die Bürokratie in Brüssel – wendet. Und es gibt keinen zwingenden Zusammenhang zwischen solchem Widerstand nach außen und totalitären Tendenzen nach innen, wie wir sie heute in osteuropäischen Staaten, allen voran in Viktor Orbans Ungarn, erleben. Der spätere erste Präsident der Tschechoslowakei Tomas Garrigue Masaryk war sicher kein schlechterer Demokrat als, sagen wir, Bismarck oder Hindenburg.
Charakteristisch für alle nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts war das gesteigerte Interesse für Märchen, Sagen und Legenden, aus denen das kollektive Bewusstsein des „einfachen Volkes“ zu sprechen schien und die zudem eine Verankerung der Gegenwart in einer weit zurückreichenden Tradition gewähren sollten. Auch „Rusalka“, zu der Jaroslav Kvapil das Libretto geschrieben hat, verarbeitet einen in Europa verbreiteten Märchenstoff, dessen namengebende Gestalt eine Wassernixe ist, eine Verwandte von Andersens Meerjungfrau oder von La Motte Fouqués Undine.
Rusalka liebt einen Prinzen und bittet die Hexe Jezibaba, sie in einen Menschen zu verwandeln. Der Preis: sie muss stumm bleiben und ins Wasserreich zurückkehren, wenn der Prinz aufhört, sie zu lieben. Es kommt, wie es kommen muss. Die Liebe des Prinzen erkaltet, und er wendet sich der „fremden Fürstin“ zu. Rusalka hat ihre Stimme wieder gewonnen (was wäre eine Oper mit einer zentralen Figur, die nicht singen kann), ist aber weder in der „menschlichen“ Welt des Prinzen, noch im Wasser daheim. Irrlichternd führt die Betrogene ihre Opfer ins Verderben. Der Prinz bereut – aber zu spät. Er stirbt, als er Rusalka küsst.
Der Stoff enthält zahlreiche Elemente, die geradezu nach einer modernen Interpretation oder nach einer kritischen Umdeutung verlangen: Die Gefahr, die sich ergibt, wenn jemand sein Milieu verlässt und versucht, in eine andere Welt überzuwechseln; das Schweigegebot gegenüber der liebeshungrigen Frau; die Verderben bringende Schöne und ihr Todeskuss.
Jenseits seiner historischen Bedeutung und der Einladung zur Auflösung der Märchensymbolik besticht „Rusalka“ durch seinen Reichtum an eingängigen Melodien, die, wie so oft im Werk Dvoraks, aus der böhmischen Folklore schöpfen.
Dvorak war 60 Jahre alt, als er „Rusalka“, drei Jahre vor seinem Tod, komponierte. Er hatte, wie Beethoven, neun Symphonien, unzählige Stücke für Orchester, für Kammerensemble und für Soloinstrumente sowie Vokalwerke geschrieben. „Rusalka“ war seine vorletzte Oper. Von Johannes Brahms ist der Ausspruch über seinen Zeitgenossen Antonin Dvorak überliefert: „Der Kerl hat mehr Ideen als wir alle. Aus seinen Abfällen könnte sich jeder andere die Hauptthemen zusammenklauben.“ Das gilt für „Rusalka“ nicht weniger als für das Instrumentalwerk des tschechischen Komponisten.
In Stuttgart gibt der Regisseur Bastian Kraft mit „Rusalka“ sein Debüt. Die Ankündigung auf der Homepage der Oper lässt erahnen, dass ihn das Tschechische an der Oper nicht so sehr interessiert. Die Figur der Nixe, die statt zwei Beinen, die sich spreizen lassen und zwischen denen sich entscheidet, ob sie Frau oder Mann ist, einen Fischschwanz aufweist, fügt sich nahtlos in die gegenwärtigen Debatten über Geschlecht, Gender und Diversität. Kraft stelle „den hybriden Wald- und Wasserwesen in Antonin Dvoraks geisterhaft schön von nächtlichen Parallelwelten erzählender Oper Rusalka Drag- und Burlesque-Performer*innen zur Seite. Sie konterkarieren durch ihre fantasievoll von Freiheit sprechende fluide Performance von Geschlecht eine durch und durch von fixen Rollenbildern besessene Welt.“ Mal sehen, wer gewinnt: Drag oder Dvorak.
Thomas Rothschild