Visionär
Eine universell gültige Tanzsprache
Festwochen zum 50. Todestag von John Cranko
Am 26. Juni 1971 starb auf dem Rückflug einer erfolgreichen USA-Tournee überraschend John Cranko, der Initiator des Stuttgarter Ballettwunders.
Ein reiches Repertoire, aufsehenerregende Gastspiele, die Förderung großer Tänzerpersönlichkeiten und unterschiedlichster Choreografen, der Aufbau der John Cranko Schule – alles das sind seine Verdienste. In nur zwölf Jahren führte er die Kompanie zu Weltrum. Sie gedenkt dem charismatischen Choreograf und Kompanieleiter nun im Juni und Juli 2023 mit zwei Festwochen. Diese beginnen mit einem Ballettgespräch am 26.6., setzen sich mit einer Gala am 30.6. fort und gipfeln in der Ballettpremiere „Remember Me“ am 13. Juli. Doch im Grunde steht die gesamte Spielzeit im Zeichen John Crankos.
Geboren am 15. August 1927 in Rustenburg, Südafrika, und in Kapstadt ausgebildet zog es John Cranko 1946 nach London. Er wurde Mitglied des Sadler’s Wells Theatre Ballet, aus dem später das berühmte Royal Ballet hervorging. Schon damals fiel er auf und feierte in den 40ern bis 50ern mit „Beauty and the Beast“, „Pineapple Poll“ und „Harlequin“ große Erfolge. Weitere Wegsteine waren „La Belle Hélène“ für die Pariser Oper und sein erstes abendfüllendes Ballett „Der Pagodenprinz“ 1957.
1961 dann die verblüffende Entscheidung: John Cranko folgte dem Ruf des Intendanten Walter Erich Schäfer zum Stuttgarter Ballett, einer damals unbedeutenden Provinztruppe mit wenig Auftritten und vielen Pflichten für die Oper. Doch genau diese Herausforderung reizte ihn: Hier konnte er eine Kompanie nach seiner Vision von Grund auf neu aufbauen.
Er scharte eine Reihe junger Talente um sich, unter ihnen die Brasilianerin Marcia Haydée, die seine sprühenden Einfälle stante pede umsetzen konnte. John Cranko hatte ein untrügliches Gespür für große Tänzerpersönlichkeiten, wie Richard Cragun, Egon Madsen, Birgit Keil, Ray Barra und Susanne Hanke. Sie und weitere Weggefährten beschreiben John Cranko als charmant, spontan, humorvoll, großzügig, an allen Kunstsparten interessiert und inspirierend: Er verstand es auf unnachahmliche Weise, seine gesamte Umgebung mitzureißen.
Nach ersten kleinen Balletten gelang ihm 1962 sein erster großer Wurf: „Romeo und Julia“, das weltweit bejubelt wurde. Crankos abendfüllende Handlungsballette wie „Onegin“, „Schwanensee“ oder „Der Widerspenstigen Zähmung“, die sich durch einen großen Sinn für Dramatik und das universell Menschliche, eindrucksvolle Ensemble-Szenen und bewegende Pas de Deux auszeichnen, sind heute Dauerbrenner im Repertoire.
Aber auch kleinere Choreografien wie „Jeu de Cartes“ oder abstrakte Kreationen wie „Opus 1“ und „Initialen R.B.M.E.“ wurden Meilensteine in der Geschichte des Stuttgarter Balletts. Nach dem mehrwöchigen Gastspiel 1969 in New York mit „Onegin“ prägte der Tanzkritiker Clive Barnes den Begriff des „Stuttgarter Ballettwunders“.
Ein Gespräch, an dem berühmte Weggefährten John Crankos teilnehmen, eröffnet am 26. Juni die Festwochen. Es folgt die Ballettabend-Premiere „Remember Me“. Teil von dieser sind die „Initialen R.B.M.E.“, mit denen John Cranko seine ersten Solisten Richard Cragun, Birgit Keil, Marcia Haydée und Egon Madsen unsterblich machte, und das Ballett „Requiem“ Kenneth MacMillans von 1976, in dem dieser Hoffnung spendend an Cranko erinnert.
MacMillan war Freund und Kollege schon aus Londoner Tagen und wirkte später als Choreograf und Leiter des Royal Ballets. Im Grunde gedenkt das Stuttgarter Ballett aber die gesamte Spielzeit 2022/2023 Cranko: so mit „Onegin“ nach Puschkin und der Ballettkomödie „Der Widerspenstigen Zähmung“. Auch John Neumeiers ergreifendes Handlungsballett „Die Kameliendame“ ab Februar und Jiří Kyliáns Gesamtkunstwerk „One of a Kind“.
Ab März sind zu sehen, Produktionen bedeutender Choreografen und Kompaniespitzen in Hamburg und am Nederlands Danse Theater, deren Talent Cranko schon früh förderte. Mit der Reihe der „Creations VII–IX“ und dann ab Mai „X–XII“ setzt das Stuttgarter Ballett seine Tradition fort, namhafte Gastchoreografen nach Stuttgart einzuladen und es seinen Tänzern zu ermöglichen, sich choreografisch zu erproben. Das können sie auch im Rahmen von „Noverre: Junge Choreografen“ im Januar tun, der vom Noverre-Gesellschafts-Gründer Fritz Höver und Cranko vor 60 Jahren ins Leben gerufene Plattform. Außerdem ist Edward Clugs „Nussknacker“ ab Ende November zu erleben. Crankos eigene Version von 1966 wurde nicht notiert. Die traditionelle Matinee der John Cranko Schule – das Ballettinternat hatte Cranko 1971 begründet – komplettiert den Reigen der Veranstaltungen.
Anne Abelein