Der gefährlichste Feind der Wahrheit
Henrik Ibsen verhandelt in seinem Meisterdrama „Ein Volksfeind“ Wahrheit und Freiheit, Macht und Moral.
Themen, die aktueller sind denn je, wie nun im Schauspiel Stuttgart zu sehen ist.
Der Kurarzt Doktor Thomas Stockmann entdeckt Ungeheuerliches! Das Heilwasser, das Touristen und Badegäste in eine verschuldete Kleinstadt locken soll, heilt nicht. Es macht krank, vergiftet vom Schlamm aus der Gerberei seines Schwiegervaters. Auch das Trinkwasser der Stadt scheint betroffen zu sein. Stockmann will das an die Öffentlichkeit bringen – mit wissenschaftlichem Gutachten. Zunächst unterstützen ihn Bürgerschaft und Presse. Doch das dreht sich: Stadtpolitiker wollen vertuschen, diffamieren Stockmann – auch sein Bruder, der Bürgermeister. Schließlich sollte das neue Kurbad für wirtschaftlichen Aufschwung sorgen. Versiegt diese einzige Einnahmequelle, werden weitere Schulden und Arbeitslose befürchtet.
Ein aktueller Umweltskandal? Nein. Henrik Ibsen beschrieb dies bereits 1883 im Drama „En Folkefiende“ am Konflikt zwischen Badearzt, Honoratioren und Bürgerschaft. Durch „Ein Volksfeind“ ziehen sich die Leitmotive des norwegischen Schriftstellers: Was ist Wahrheit, was Lüge? Wie geht eine Gesellschaft in der Krise damit um? Und wie steht es da um Freiheit, Recht, Gesundheit, Mehrheitsverhältnissen, Macht- und Wirtschaftsinteressen? Ibsen lässt Stockmann sagen, die gesamte Gesellschaft sei vergiftet, ruhe auf „Lüge“, die „geschlossene Mehrheit“ sei der „gefährlichste Feind der Wahrheit und der Freiheit“.
Ein Seitenhieb auf die öffentliche Meinung: Ibsen soll mit dem „Volksfeind“ reagiert haben auf Kritik an seinem „Nora oder Ein Puppenheim“ sowie „Gespenster“. Werke, in denen er den Vorhang vor sorgfältig gehüteten Geheimnissen der Bourgeoisie lüftet. Warf er doch im späten 19. Jahrhundert mit seinen naturalistischen Stücken die Regeln für Dramen über den Haufen: Theater war für ihn kein Divertissement, sondern Mittel herrschende Konventionen und bürgerliche Moralvorstellungen zu hinterfragen.
Das macht bis heute auch die Aktualität von Ibsens „Volksfeind“ aus. Dass Arten sterben, das Klima sich wandelt, Ressourcen missbraucht werden, ist seit Jahrzehnten bekannt – und dennoch ist viel zu lange nichts geschehen. Wachstumslogik? Fehlender politischer Willen? Welche Interessen gestalten Zukunft? Welche Werte halten die Gesellschaft zusammen?
Letztere droht, so Stockmann, zu zerfallen, wenn nicht Recht, Wahrheit und Gesundheit aller an oberster Stelle steht. „Revolution“ ist für ihn die einzig mögliche, radikale Lösung, um gegen Lüge und Dummheit zu kämpfen. Das erinnert an aktuelle Diskussionen. Heute wie damals gilt: Je schwächer die demokratische Gesellschaft, desto größer ihre Anfälligkeit für Radikallösungen. Ist Stockmann ein moderner Kohlhaas gegen den Rest der Welt? Unter anderem diese Frage stellt sich Burkhard C. Kosminski, der am Schauspiel Stuttgart in der neuen Spielzeit Ibsens „Volksfeind“ inszeniert. Der Intendant erforscht, wie eng Eigeninteresse, Freiheitsrechte und Wahrheitsfindung mit politischem Handeln verstrickt sind. Klar ist, dass „die Demokratie verloren hat, wenn sie nur noch Sache Einzelner ist“.
Petra Mostbacher-Dix