Macht und Freiheit der Musik
Die Komponistin, Pianistin und Dirigentin Lera Auerbach gastiert beim Stuttgarter Kammerorchester
Klangflächen wie in der sinfonischen Musik des 19. Jahrhunderts sind ein bevorzugtes Ausdrucksmittel von Lera Auerbach. Wer schon einmal eines ihrer zahlreichen Orchesterwerke gehört hat, wird den Eindruck nicht los, diese Musik sei vertraut.
Eklektizismus nennt man diese Technik, kompositorische und stilistische Anleihen bei Musikern früherer Jahrhunderte zu machen. Unumstritten ist dieses Verfahren nicht, man handelt sich schnell mal den Vorwurf mangelnder Innovationskraft ein. Andererseits bietet sich dem Publikum auf diesem Weg ein leichter Zugang – bei Kompositionen der Gegenwart beileibe keine Selbstverständlichkeit.
Wenn die 50-jährige Auerbach nun in dreifacher Gestalt – als Pianistin, Komponistin und Dirigentin – beim Stuttgarter Kammerorchester gastieren wird (6. November, Mozartsaal), kann man in „Eterniday“ diese Annäherung an ältere Musik bei Lera Auerbach erleben. Das 15-minütige Werk aus dem Jahr 2010 stellt eine Auseinandersetzung mit den Kompositionen Mozarts dar, der neben Joseph Haydn eine wichtige Inspirationsquelle für sie ist. Formal orientiert Auerbach sich an einem Prinzip der Barockzeit, dem Concerto grosso, bei dem ein Solist immer wieder aus dem Gesamtklang heraustritt und einen kleinteiligen Dialog mit dem Orchester beginnt. Einen Gegenpart dazu bilden die eigentümlichen Klänge von großer Trommel und Celesta, die sowohl die Klangwelt des Streichorchesters als auch den Stil der Wiener Klassik überschreiten – auch das ist typisch für Auerbachs Personalstil.
Im letzten Jahr meinte sie, die stets gründlich ihre Werke reflektiert: „Eine Sinfonie ist ein Werk, das viele Menschen zusammenbringt. Es ist eine gemeinsame Erfahrung, die zahlreiche Menschen mit unterschiedlichem internationalem Hintergrund verbindet und sie auf tiefgreifende, transformative und existenzielle Weise zusammenbringt. Für meine eigenen Sinfonien bevorzuge ich die romantische, idealisierte Definition des Wortes „Sinfonie“ als ultimative Harmonie, bei der sich mehrere Stimmen miteinander vereinen – vielleicht wie eine Rückkehr zu einer verlorengegangenen ursprünglichen Ganzheit.“
Wenn Lera Auerbach ein neues Werk schreibt, taucht sie tief ein in die dahinterliegenden Welten, gräbt Historisches und Mythologisches aus, nähert sich auf literarisch-assoziativem Weg ihrem Thema oder betreibt ausgiebige Quellenstudien. Gleichzeitig beginnt die künstlerisch vielfach Begabte, Gedichte zu schreiben oder Gemälde zu entwerfen, die ihr helfen, ihre musikalische Inspiration zu finden: „Es gibt klare Verbindungen zwischen diesen unterschiedlichen Elementen, sie sind alle Teil des kreativen Prozesses. Ich könnte nicht Klavier spielen oder ein Orchester so dirigieren, wie ich es mache, ohne die Kenntnis von Literatur oder von bildender Kunst. All das wurde auch zu einem Teil der Kreativität beim Komponieren.“
Dabei, so meinte sie vor einigen Jahren in einem Interview, könnten diese Werke geradezu eine magische Macht entfalten und ein Eigenleben entwickeln, bei dem sie dann so etwas wie ein schreibendes Medium sei: „Die Machtverhältnisse kippen, das Werk nutzt seine Schöpferin als Mittel, um geschaffen zu werden.“
Dennoch zeigt sich immer wieder ein starker Ausdruckswille, eine subjektive Stimme in den zahlreichen Kompositionen Lera Auerbachs. Diese Stimme spricht mit einem starken Expressionismus, mit schroffer Radikalität, die den Zuhörer mit überzeichneten Gefühlen konfrontiert, ihn regelrecht schockiert, was für die in Sibirien geborene und seit vielen Jahren in New York lebende Künstlerin Ausdruck von Freiheit sei: „Kunst muss frei von Furcht sein. Wir sind alle menschlich, wir haben unsere Unsicherheiten, Grenzen, Sorgen, das Bedürfnis, gemocht und anerkannt zu werden. Aber all das steht einem kreativen Prozess im Weg. Um wahre Kunst zu schaffen, muss man sich von Beschränkungen frei machen.“
Was Auerbach ebenfalls gerne macht, ist, dass sie für Klavierkonzerte von Mozart und seinen Zeitgenossen neue Kadenzen schreibt, also jene orchesterlosen Abschnitte am Ende des ersten Satzes, die in der Zeit der Wiener Klassik spontan improvisiert wurden und den Solisten die Gelegenheit geben sollten, mit ihrer Virtuosität zu glänzen. Lera Auerbach nutzt diese Sequenzen, etwa in Mozarts Klavierkonzert d-Moll KV 466, gerne für klangliche und stilistische Provokationen, bricht ganz bewusst den klassischen Gestus. Wieder schreibt Auerbach, in einem Interview danach befragt, der Musik als Ausdruckskunst eine Macht zu: „Ich glaube daran, dass die Kunst sehr viel Macht besitzt. Kunst formt das Bild der Gegenwart für die zukünftigen Generationen. Sie kann die Individuen ihrer Zeit verändern, und ich hoffe, dass sich etwas für diejenigen ändert, die zu einem meiner Konzerte gehen. Dass sich die Musik wie eine kräftige Macht über sie ausbreitet, die sich entweder mit ihren Erinnerungen verbindet oder sich an die Emotionen ihres Herzens anschließt.“
Markus Dippold
Stuttgarter Kammerorchester // 6. November / Mozart-Saal / Karten für Mitglieder und Gäste