Mit dem Hackebeilchen
Graf Öderland im Forum Theater Stuttgart
Max Frisch zählt zu der Handvoll deutschsprachiger Dramatiker, die sich bis heute auf den Spielplänen halten konnten. Fritz Hochwälder, Ulrich Becher, Erwin Strittmatter, Peter Hacks, Ingeborg Drewitz, Wolfgang Hildesheimer, Elias Canetti, Hedda Zinner, Leopold Ahlsen, Helmut Baierl, Karl Wittlinger, Heinar Kipphardt, auch Peter Weiss – Fehlanzeige.
Allerdings sind es nur zwei von den zahlreichen Dramen, die Max Frisch geschrieben hat, auf die immer wieder zurückgegriffen wird: „Biedermann und die Brandstifter“ und „Andorra“. Ihr Parabelcharakter und ihre Themen laden zur Übertragung auf Gegenwartsverhältnisse ein. „Graf Öderland“ von 1951 gehört nicht eben zu den Rennern auf deutschen Bühnen. Max Frisch selbst scheint Zweifel an seinem Lieblingsstück gehabt zu haben. Jedenfalls hat er drei Fassungen produziert, die auch auf Kritik der Zeitgenossen reagierten.
„Graf Öderland“, den Max Frisch „eine Moritat“ nannte und der diverse Assoziationen hervorruft – an Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“, an Brechts „Dreigroschenoper“, an H. C. Artmanns Blaubart-Gedichte –, handelt von einem Mörder, der für seine Tat kein Motiv hat und sich nur von einem einzigen Menschen verstanden fühlt: dem Staatsanwalt. Dieser, die eigentliche Hauptfigur des Stücks, bringt das Element des Absurden ein, das bei Frisch, nicht so radikal wie bei Beckett, Pinter, Havel oder Mrożek, aber doch im Geist der Dramatik seiner Zeit, eine Rolle spielt.
„Graf Öderland“ beruht auf Tagebuchaufzeichnungen, die zum Teil wiederum auf Zeitungsmeldungen zurückgehen. Obwohl alle drei Fassungen des Stücks zwischen 1951 und 1961 von Regisseuren uraufgeführt wurden, die zu den bedeutendsten jener Jahre zählten, von Leonard Steckel in Zürich, von Fritz Kortner in Frankfurt am Main und von Hans Lietzau in Berlin, blieb dem „Graf Öderland“ der Erfolg versagt.
Der Handlungsverlauf macht es dem Publikum auch nicht ganz leicht. Er folgt dem Modell der „verkehrten Welt“. Der Staatsanwalt, Inbegriff des Verteidigers der bürgerlichen Ordnung, wird unter dem Eindruck eines Mordes ohne Motiv am Hauswart der Bank, an der der Mörder angestellt war, von dem Drang überfallen, aus dieser Ordnung auszubrechen. Er wird selbst zum Mörder.
Als roter Faden zieht sich die Legende von dem im Titel eingeführten Graf Öderland mit der Axt in der Hand, in dessen Rolle der Staatsanwalt schlüpft, durch das Stück. Wir erinnern uns: die Axt gehörte zu den Accessoires des Serienmörders Haarmann, der drei Jahrzehnte vor der Entstehung des Dramas die Öffentlichkeit in Angst und Schrecken versetzt hatte.
„Graf Öderland“ ist gespickt mit bizarren Details wie der Yacht, die den beredten Namen „Hoffnung“ trägt und die den Staatsanwalt mit der Köhlerstochter Inge nach Santorin bringen soll. Zahlreiche Einzelheiten rufen Erinnerungen ab an überlieferte Figuren und Motive, an Franz Kafkas Josef K., an die Filme von Fritz Lang. So abstrus scheint die Szenenfolge, dass Max Frisch am Ende eine bewährte Lösung anbietet: War alles nur ein Traum?
Als wüssten wir nicht spätestens seit Freud, wie viel Träume mit der Realität zu tun haben.
Erhellend ist eine Aufzeichnung, die Max Frisch über die Aufführung der zweiten Fassung mit Bernhard Minetti in der Rolle des Staatsanwalts hinterlassen hat: „Am Schluss verbeugten wir uns vor einem Publikum, das eine Hitler-Karikatur glaubte gesehen zu haben.“ Das also war es nicht, was er wollte. Damit verliert auch der gelegentliche Verweis auf Brechts „Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“ seine Berechtigung.
Thomas Rothschild
Graf Öderland // 6.-8., 12.-15., 19., 21., 22. Oktober 2023 / Forum Theater / Karten für Mitglieder: 15 Euro