Vielfalt und Experiment
Das Grand Théâtre de Genève bringt abwechslungsreichen Tanz ins Ludwigsburger Forum am Schlosspark
Einst war das Ballett französisch, dann wurde es russisch, schließlich zog es nach Amerika – und nun haben die beiden Choreografen, mit denen die Ballettkompanie des Genfer Theaters nach Ludwigsburg kommt, beide marokkanische Wurzeln. Einer ist ein Weltphilosoph des modernen Tanzes und stammt aus Belgien, der andere hat das Tanzen auf der Straße gelernt, besitzt einen Abschluss in Sozialwissenschaften und leitet heute als Hip- Hopper eines der großen staatlichen Tanzzentren Frankreichs. Da behaupte noch einer, der Tanz sei keine universelle Sprache.
Seit 2022 ist Sidi Larbi Cherkaoui Tanzdirektor am Grand Théâtre de Genève, wie kein zweiter lebender Choreograf erforscht der geborene Belgier unablässig die Vielfalt anderer Kulturen, Philosophien, Religionen und vor allem Tanzstile. Sein »Noetic« wirkt anfangs recht nüchtern, obwohl die Kleidung der Tänzer an Pina Bausch gemahnt: Die Männer kommen in Anzügen, die Frauen im kleinen Schwarzen und auf sehr hohen Absätzen, über denen sie Knieschoner tragen. Wir sehen zunächst mechanische Bewegungen: Die Menschen schaffen Strukturen, bauen, verändern und dekonstruieren die Realität. Ein Bauplan auf dem Boden, den sie mit langen Streifen markieren, wirkt wie die Umrisse entfärbter Mondrian-Bilder. Doch dann werden diese Streifen, es sind dünne Lamellen aus Kohlefaser, in den Händen der Tänzer zu Instrumenten der Metamorphose: zu Bögen, Korridoren, einer filigranen Kuppel, zu mannshohen, oszillierenden Kreisen und schließlich als Planetenbahnen zu einem Sonnensystem. Wie schon so oft arbeitet Cherkaoui mit dem bildenden Künstler Antony Gormley zusammen, der aus dünnen Stäben architektonische Schönheithervorzaubert. Cherkaoui choreografiert die Verwandlung fester, rechtwinkliger Strukturen in einen weichen Fluss von Bewegung, das mechanisch-anonyme Stadtleben wandelt sich zu einem hypnotischen, poetischen Wogen. Das Wort »noetisch« kommt von der Noetik, der Lehre vom Denken und Erkennen geistiger Gegenstände, man könnte es übersetzen mit: »die Rolle des Bewusstseins in der menschlichen Evolution erforschend«.
Sind alles Wissen, alle Handlungen und das Bewusstsein bereits im Universum oder gar in unsselbst vorhanden, müssen wir sie nur noch freilegen? Das Zusammenwirken aller Menschen, die Kraft des Kollektivs zur Freisetzung unseres Potenzials und unserer Kreativität ist ein Lieblingsthema von Cherkaoui, das er hier zu einer ausnehmend schönen, erstaunlich klassischen Musik von Szymon Brzóska umsetzt. Sie kommt vom Band, ein japanischer Taiko-Schlagzeuger und eine Gesangssolistin musizieren live. Wo die Tänzer in »Noetic« den Raum modulieren und formen, da lässt sie Fouad Boussouf in »VÏA«, ebenfalls eine knappe Stunde lang, den Boden liebkosen. Die lateinische Via, also die Straße, meint hier sowohl die afrikanische Erde wie auch das Pflaster der französischen Banlieus, auf das Körper beim Hip-Hop prallen und von dem sie wieder wegschnellen. Boussouf verbindet Hip-Hop, zeitgenössischen Tanz und den neuen Zirkus mit traditionellen Formen seiner Heimat Marokko. Er zeigt eine Welt der warmen Farben, ein helle Bühne und kräftig leuchtende Kostüme. Seit Sidi Larbi Cherkaoui in Genf arbeitet, sucht er auch mit seinen Gästen intensiv den Dialog mit der bildenden Kunst, Boussouf arbeitete bereits zuvor mit dem Schweizer Bildhauer Ugo Rondinone zusammen. Der hüllt die Körper in atemberaubende Farbwechsel
von Türkis bis Blutrot und lässt die Tänzer im Sonnenglanz erstrahlen.
Ballet du Grand Théâtre de Genève I 13. Januar 2024 / Forum Ludwigsburg / Karten für Mitglieder: 19-45 Euro; Freier Verkauf: 19-49 Euro; Ermäßigung für Schüler:innen und Studierender
In ihren roten Kaftanen bewegen sie sich zunächst oft im Kollektiv, ihr puppenartiges Hüpfen mutiert zu einem rauschhaften Effekt. Die stark rhythmische Musik stammt von Gabriel Majou, die Kontinuität der Bewegung, die der Choreograf dazu entwirft, gehört genau wie die Integration spontaner Gesten zu seinem persönlichen Stil. Wie all die französischen Hip-Hopper hat er keinerlei Berührungsängste mit anderen Tanzstilen, ganz im Gegenteil. Boussouf leitet seit 2022 das Centre chorégraphique in Le Havre, eines der 19 staatlichen Tanzzentren, wo der »neue französische Tanz« mit zeitgenössischen, experimentellen Choreografen gefördert wird. Den Hip-Hop, der in Frankreich als Bühnenkunst wesentlich arrivierter ist als bei uns, lernte Boussouf auf der Straße so gut, dass er nicht nur mit bekannten Künstlern auftrat, sondern auch seine Masterarbeit darüber verfasste. Eine persönliche Marotte mag sein, dass seine jüngeren Stücke alle ein Trema im Titel tragen, also den doppelten Punkt: Sie heißen »Näss«, »Oüm« oder »Yës«. Oft geht es darin um Erinnerungen an die Kindheit – so wie hier um die heiße Erde Marokkos.
Angela Reinhardt